Sonntag, 25. Juni 2017

Schaffen wir 'psychisch krank' doch einfach ab

In großen Teilen der Selbsthilfe seelische Gesundheit findet sich die Haltung "ich bin nicht psychisch krank, sondern mich zeichnen seelische Besonderheiten aus". Der Begriff psychische Erkrankung wird sehr kritisch gesehen, weil es eine Zuschreibung von außen sei, die sich aus gesellschaftlichen Normen und aus der Definitionsmacht anderer ergebe. Das Konstrukt Psychische Erkrankung sei ein Mittel zu Ausgrenzung und eine Einschätzung, die nicht beweisbar ist. Jemand als psychisch krank zu bezeichnen sei eine Stigmatisierung. 

Sollen wir also die Bezeichnung "psychisch krank" einfach abschaffen?

Die Definition von psychischer Erkrankung, dass der Mensch aufgrund seiner psychischen Verfassung einen erkennbaren Leidenszustand haben und in seiner Alltagskompetenz wesentlich gestört sein muss, scheint auf den ersten Blick ganz brauchbar, vermeidet sie es doch, dass der betroffene Menschen nicht nach seinen Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen beurteilt wird, sondern nur nach seinen Äußerungen und seinem Verhalten. Hier ergeben sich aber Widersprüche. Wer definiert eine funktionierende Alltagskompetenz und ist Leiden nicht eine sehr subjektive Wahrnehmung? Letztendlich scheinen wir akzeptieren zu müssen, dass Psychiater, Richter und Polizisten sowie die Gesellschaft definieren, was psychisch krank ist.

Diese kritische Haltung der Selbsthilfe, kann sich im individuellen Fall als sehr hilfreich erweisen, drückt sie doch aus, ich wehre mich dagegen als krank bezeichnet zu werden, weil ich mich gar nicht so fühle. Meine "Krankheit" ist nichts anderes, als ein psychisches Phänomen, das von der Norm abweicht. Ja meine Erkrankung ist kein Defizit, kein Makel, für den ich mich schämen muss, sondern eine wertvolle Erfahrung, die ich nutzen kann, bis dahin, dass ich in der Psychiatrie als GenesungsbegleiterIn arbeiten kann, um bei anderen psychisch belasteten Menschen mit diesem Erfahrungswissen hilfreich zu wirken. Diese Sichtweise kann sich in hohem Maße gesundheitsfördernd bei dem zu Unterstützenden und auch bei dem Genesungsbegleiter selbst auswirken. Übrigens nennen die Leute aus der EX-IN Bewegung ihre Zielgruppe "Menschen mit seelischen Erschütterungen" - auch eine fast schon poetische Möglichkeit.

Oder können Menschen, die sich gegen "psychisch krank" wehren nur ihre Erkrankung nicht annehmen und akzeptieren, und setzen sich unter für sie schädlichen Druck? 

Vielleicht ist auch der Begriff "seelische Behinderung" gar nicht so schlecht, wenn wir ihn so verstehen, dass Menschen nicht seelisch behindert sind, sondern von spezifischen Barrieren behindert werden. Leider ist das Wort Behinderung sehr negativ belegt, so dass sich viele Menschen mit psychischen Besonderheiten dagegen wehren bzw. sich vielleicht gar nicht durch Barrieren behindert fühlen.

Das ganze Thema hätte sich erledigt, wenn Krankheit ganz allgemein als etwas Selbstverständliches angesehen werden würde. Also wenn ein Erkrankter denselben gesellschaftlichen Wert hätte, wie ein Gesunder - wobei ich diese Polarität zu Veranschaulichung wähle, denn DEN Gesunden und DEN Kranken gibt es in dieser Ausschließlichkeit gar nicht. In unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft führen das geringere Leistungsvermögen, dass einen Kranken ausmacht und die Kosten, die er für die Gesellschaft erzeugt, zu einer Abwertung, zur Ausgrenzung und nicht selten zum sozialen Abstieg. Wäre das nicht so, dann hätte vermutlich auch niemand Probleme damit, sich als psychisch krank zu bezeichnen. 

Die Haltung "ich bin nicht krank, ich bin nur anders" finden wir aber nicht bei allen Menschen mit seelischen Belastungen. Einige haben überhaupt kein Problem damit, sich psychisch krank zu nennen oder sich so nennen zu lassen. Für einige von Ihnen bedeutet dies eine Entlastung und eine Orientierung. Für sie bedeutet psychische Erkrankung nicht, dass sie weniger wert sind als andere und genau deswegen macht es ihnen auch nichts aus, sich so zu nennen. 

Eine andere Frage ist, wie gelange ich zu medizinischer Behandlung, wenn ich mich nur als Mensch im psychischen Ausnahmezustand betrachte? In unserem Gesundheitswesen ist Krankheit die Eintrittskarte für Kostenerstattung durch die Krankenkasse. Welche Kategorie soll man wählen, um Behandlung zu rechtfertigen? Es ist doch paradox, dass ein Nichtkranker zum Arzt geht. Oder aber ich lehne aufgrund der Einschätzung meiner psychischen Befindlichkeit jede Behandlung ab, wo wir dann in bestimmten Situationen zu der Problematik der Zwangsbehandlung und Zwangsunterbringung kommen. 

Übrigens ist es nicht so, dass psychisch erkrankte Menschen ständig und lebenslang eingeschränkt sein müssen. Manche haben irgendwann dauerhaft keine Symptome mehr oder ihre Erkrankung wird nur hin und wieder akut. Oft werden diese Menschen ein Leben lang als psychisch krank bezeichnet, nach dem Motto "einmal psychisch krank, immer psychisch krank". Da zeigt sich daran, dass ich - wenn schon - lieber die Bezeichnung "ein psychisch erkrankter Mensch" gebrauche und nicht "ein psychisch Kranker". Dies drückt nämlich die Möglichkeit aus, dass die Symptome nicht ständig auftreten und ich in ihm zuerst einmal den Menschen mit einer Erkrankung sehe und ihn nicht nur auf darauf reduziere.

Eine andere, ganz interessante Möglichkeit ist es, die Begriffe Psychiatrieerfahrener oder Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose zu gebrauchen. Dies bedeutet, dass für diesen Menschen nur ausgedrückt wird, dass er in psychiatrischer Behandlung ist oder war bzw. dass er eine psychiatrische Diagnose hat. Über sein Wesen und seine Besonderheit wird dabei gar nichts ausgesagt. Allerdings werden dabei die Menschen, die psychische Problem haben und mit der Psychiatrie nicht in Kontakt gekommen sind nicht erfasst. Die Aktivisten der Selbsthilfe haben sich Anfang der 90er Jahre selbst den Namen Psychiatrieerfahrene gegeben. Dies hat sich mit den Jahren durchgesetzt, obwohl Psychiatrie-Fachpersonen ja Psychiatrieerfahrung durchaus nicht abgesprochen werden kann, worauf diese immer wieder, meist scherzhaft, hinweisen. Allerdings versuchen in der Gegenwart manche Selbsthilfeaktivisten sich von dem Begriff "Psychiatrieerfahrener" wieder zu verabschieden.

Eine in der Selbsthilfe engagierte Frau hatte vor Jahren auf ihrem quasi geschäftlichen Briefbogen die Bezeichnung "Phänomenerfahrene" stehen - auch eine Lösung.

Wie gehe ich nun selbst mit der ganzen Problematik um? Zunächst einmal sehr inkonsequent. Immer wenn ich von psychisch erkrankten Menschen rede oder schreibe, meldet sich bei mir ein innerer Widerstand - das ist einfach das Resultat aus 18 Jahren Selbsthilfearbeit. Meistens nehme ich diesen ernst und suche nach anderen Worten für "psychisch krank". Manchmal aber ignoriere ich diesen Widerstand der Einfachheit halber und weil ich in diesem Moment die Sache doch nicht als so wichtig ansehe. Wenn ich in mich hineinschaue, kann es schon so sein, dass ich in Wirklichkeit nach 36 Jahren Psychoseerfahrung immer noch nicht akzeptieren kann, dass ich psychisch krank bin. Das zeigt sich vielleicht auch in meinem Ehrgeiz leistungsfähig und belastbar zu sein und dabei auch über die eigenen Grenzen zu gehen. Obwohl ich es besser wissen müsste, halte ich mich nach wie vor an die Regeln unserer Leistungsgesellschaft. Und dann bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich nicht doch noch selbst eine stigmatisierende Haltung gegenüber Krankheit habe und meine Erfahrungen mit schweren seelischen Krisen doch als Makel und Defizit sehe. Und zuletzt habe ich das Glück nach schweren Zeiten in meinen Leben doch wieder relativ symptomfrei geworden zu sein, denn es fällt auf, dass sich über diese sprachliche Probleme vor allem Menschen Gedanken machen, die psychisch wieder relativ fit geworden sind. Die anderen, die wirklich noch schwer leiden, kommen vielleicht gar nicht auf die Idee, sich nur als "besonders" zu bezeichnen, weil ihre Symptome so stark sind, dass für sie das Wort Krankheit einfach am besten passt.

Als ich in unserer Selbsthilfegruppe das Thema einbrachte, antwortete eine Mitglied "das Ganze ist nur etwas für Leute, die sich wichtig machen wollen. Ich nenne mich psychisch krank. Punkt.". 

Es stellt sich nämlich wirklich die Frage, wie wichtig die ganze Thematik eigentlich ist. Hat sich etwas geändert, nur weil wir jetzt dunkelhäutige Menschen statt Neger oder Menschen mit Migrationshintergrund statt Ausländer sagen? Wie wichtig ist nichtstigmatisiernde Sprache wirklich? Ist es nicht sinnvoller sich anzustrengen, die Zustände zu ändern, als wenig effektiv Energie zu verschwenden, die richtigen Namen zu suchen und durchzusetzen? Ich denke das Eine tun, heißt nicht das Andere lassen. 

Ich bin der Überzeugung, dass ein Namen Wirklichkeit schafft und diese beeinflusst. Allein schon die Überlegungen dazu erzeugen ein anderes Bewusstsein und eine andere Haltung. Deswegen halte ich es schon für wichtig, ob ich von "psychisch krank" spreche oder mir eine der vielen anderen Bezeichnungen aussuche. Ich habe allerdings dabei für mich noch nicht die eine, allein gültige Lösung gefunden, also variiere ich. Und ich habe (leider) schon immer das Problem, die einzig richtige Wahrheit zu finden und zu vertreten. 




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